Vortrag von Arnold Kern beim Solawi-Sommertreffen am 20. August 2022 in Hittsau über die Mezzadria, einer frühen Form der gemeinschaftsgetragenen Landwirtschaft in der mittelalterlichen Toskana.
1. Aufschwung von Handel und Handwerk in Italien – Globalisierung im Mittelalter
Die Entwicklung des Handels im Mittelalter war untrennbar verbunden mit der wachsenden Macht der Städte. Obwohl es auch bereits im Frühmittelalter Fernhandelsbeziehungen gab, war der Handel überwiegend auf lokale und regionale Aktivitäten beschränkt. Das änderte sich mit den Gründungen der aufstrebenden Städte. In Italien setzte ein ausgeprägter internationaler Handel ein, zuerst mit Mittel-, West- und Nordwesteuropa, später bis in den Nahen und Mittleren Osten. Diese internationalen Handelsbeziehungen gewannen ab dem 12. Jhdt. an Bedeutung, als die Produktion hochwertiger Handelsgüter sich aufgrund der nun einsetzenden Industrialisierung des Handwerks sich deutlich steigerte. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts verlagerte sich der internationale Handel der italienischen Kaufleute weiter und konzentrierte sich nun auf die Küsten des Schwarzen Meeres, die griechischen Inseln und das Kaspische Meer. Seit Marco Polo China bereist hatte, kam der Ferne Osten als Handelspartner für Seide hinzu. Es ist also keineswegs eine Übertreibung, hier von Globalisierung zu sprechen.
2. Auch damals führte Globalisierung zu gesellschaftlichem Ungleichgewicht
Im Mittelalter war der Großteil Italiens in der Hand des deutschen Kaisers und unterstand damit dem fränkischen Lehensrecht. Das bedeutete, dass die Verwaltungs- und Kriegsdienste, die die adeligen Ritter dem Kaiser leisteten, nicht mit Geld – das dem Kaiser nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stand -, sondern mit der Nutznießung des Boden in Form eines „Lehens“ entschädigt, d.h. mit der Belehnung mit Boden aus den kaiserlichen Domänen. Da die Adeligen ihre Lehen nicht selbst bewirtschaften konnten, wurde das Land von unfreien „hörigen“ Bauern bewirtschaftet. Dieser Status der Leibeigenschaft oder Hörigkeit bedeutete für die Bauern, dass sie an das Land, das sie bestellten, gebunden waren. Es war den Bauern unter Androhung von drakonischen Strafmaßnahmen verboten, das Land gegen den Willen des Grundherren zu verlassen. Sie waren ihm in vielerlei Hinsicht verpflichtet. So mussten sie Arbeiten auf dem Land des Grundherren verrichten, welches von diesem selbst bewirtschaftet wurde. Dies waren die sogenannten Frondienste. Zu diesen Arbeiten gehörten die Hand- und Spanndienste. Zu den Handdiensten zählte beispielsweise das Unkrautjäten auf den Feldern des Grundherren, die Spanndienste bezogen sich auf das Pflügen der Felder. Während der Saat- und Erntezeit mussten die Bauern zunächst die Felder ihres Herrn bestellen, bevor ihnen erlaubt war, sich um die eigenen Felder zu kümmern. Diese Verpflichtung wurde für die Bauern häufig zur existenziellen Bedrohung. Sie konnten sich jedoch nicht mit dem Verweis auf ihre hohe Arbeitsbelastung auf den eigenen Feldern von diesen Diensten freistellen lassen, über ihre Lebensumstände und die daraus resultierenden Nöte setzten sich die Grundherren nahezu ausnahmslos hinweg und verfolgten rücksichtslos ihre eigenen Interessen.
3. Eine Revolution in der Toskana des 12. Jahrhunderts
Im Jahr 1115 löste der Tod der Markgräfin von Tuszien (der alte Name war Etruskien, heute Toskana) eine Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst um die Erbschaft aus, deren Nutznießer die toskanischen Städte waren, die sich aus der bestehenden Feudalordnung lösen konnten und sich in der Folge auch in den Besitz des Umlandes (der früheren Lehen) setzten. Die Ritter und Grafen als bisherige Lehensherren wurden entweder gewaltsam in die Städte getrieben oder sie verkauften ihr Lehen an die Städte, die auf diese Weise zu Stadtstaaten wurden. Der alte Lehensadel bildete zusammen mit den städtischen Patriziern die neue Herrscherschicht und das Land kam in den Besitz städtischer Bürger. Die Bauern wurden ermuntert, in die Stadt zu kommen. Die Städte als Sitz des Großgewerbes, der damals üblichen Industrieform, erlebten eine Bevölkerungsexplosion. So wuchs zum Beispiel Florenz von 8000 Einwohnern in der Mitte des 12. Jahrhunderts auf 40.000 Einwohner im Jahr 1300 an. Die Städte wurden durch den Besitz des Umlandes (ital. Contado) zu freien „Comunen“. Und der entscheidende Aspekt dieser Revolution: Es gab keinen Rechtsunterschied mehr zwischen Städtern (Cittadini) und „Ländlern“ (Contadini). Die Leibeigenschaft bzw. Hörigkeit der Bauern in der Toskana war beendet.
4. Die Mezzadria – Städter und Bauern werden gleichberechtigte Partner
Ein völliger Verfall der Agrarwirtschaft lag aber nicht in der Absicht der Städter als neue Grundbesitzer. Es ergab sich also die Aufgabe, die Agrarwirtschaft neu zu organisieren und den Bauern einen Anreiz zur Beibehaltung ihres Berufes zu bieten. Die Gründe für diese Neuorganisation der Landwirtschaft hat E. Sabelberg (1975, S.86) zusammengefasst:
- Man wollte das Land möglichst intensiv bebauen und dabei doch möglichst viele Arbeitskräfte für die Frühindustrie freibekommen.
- Man wollte seinen Haushalt und seine „Arbeiter“ in der Stadt mit Grundnahrungsmitteln versorgen können.
- Die Landbevölkerung sollte sich ebenfalls aus den Betrieben ernähren und auch das Interesse am intensiven Anbau behalten.
- Man wollte Spezialkulturen für den Handel und die Frühindustrie selbst herstellen können (Wein, Wolle, Seide, usw.).
Aus diesen Grundbedürfnissen entstand eine landwirtschaftliche Betriebsform, die gleichermaßen die besitzenden Städter und die Bauern befriedigt, die „Mezzadria“, auf deutsch „Halbpacht“.
Die wichtigsten Punkte eines Mezzadria-Vertrages waren folgende:
- Der Eigentümer stellt Hof und Land.
- Der Halbpächter (Mezzadro) stellt die Arbeitskraft seiner Familie und das Arbeitsgerät.
- Alle Investitionen zur Bodenverbesserung und einen Großteil der Steuern muss der Eigentümer bezahlen.
- Die erste Saat stellt der Eigentümer, der folgende Bedarf wird geteilt.
- Aufwand, Ertrag und damit das Risiko werden je zur Hälfte geteilt.
Ein derartiger Vertrag machte Eigentümer und Pächter trotz der materiellen Abhängigkeit des letzteren zu Partnern. Der Eigentümer war bestrebt, jede mögliche Verbesserung von Boden und Arbeitsmethode durchgeführt zu wissen. Es war ja sein Geld, das er hier genauso wie in seinem städtischen Gewerbe vermehren konnte. Für den Mezzadro wiederum sicherte eine optimale Nutzung seine wirtschaftliche Existenz.
Die wirklich revolutionären Neuerungen, die sich aus dieser neuen Wirtschaftsform ergaben, gingen über die rein wirtschaftlichen Aspekte allerdings weit hinaus:
- Es gab gleiche Rechtssprechung für alle Schichten, gleich ob Cittadino oder Contadino.
- Die Erfahrung, bzw. Begabung der Bauern war genauso viel wert wie die der Städter.
- Die Zusammenarbeit war eine sehr intensive. Die Städter bauten sich Villen (die toskanischen Villen sind weltberühmt) nicht für den Urlaub, sondern zur Mitarbeit im Sinne von Betriebswirtschaft und Vermarktung.
- Die Verbindung dieser so verschiedenen und nie vorher verbundenen Begabungen von Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst ergaben in weniger als einem Jahrhundert eine Hochkultur, welche nicht nur den eigenen Stadtstaat, sondern die weltberühmten Architekten und Künstler der Renaissance in ganz Europa hervorbrachten. Nur ein Beispiel: Der Sohn einer Bäuerin und eines Städters in Vinci, einem Mezzadria-Dorf im Stadtstaat Florenz ist Leonardo da Vinci.
5. Zwei verschiedene Wirtschaftssysteme: innerhalb des Stadtstaates und nach außen
Wieso funktionierte diese Kulturrevolution: Die toskanischen Stadtstaaten waren besonders im 12. und 13. Jahrhundert kleine, überschaubare Einheiten. Der Kapitalismus, der für den die toskanischen Kaufleute geradezu berüchtigt waren, wurde innerhalb des Stadtstaates nicht angewandt. Es gab keine Warenökonomie zwischen Eigentümer und Mezzadro. Waren haben einen bestimmten Wert, sonst sind sie keine Waren. Die landwirtschaftlichen Produkte eines Mezzadriabetriebes hatten keinen festen Preis, damit keinen „Wert“. Sie waren aber für beide Partner „wertvoll“. Den Begriff „wertvoll“ können wir nur auf Dinge beziehen, die wir schätzen und von denen wir trotzdem sagen, dass sie „unschätzbar“ wertvoll sind. Wert dagegen leiten wir vom Vergleich zwischen Dingen ab.
Charakteristisch für einen Warenmarkt ist, dass sich Kauf und Verkauf dort meistens zwischen zwei klar voneinander abgegrenzten Gruppen bewegt, die sich nicht genau kennen. Laut Marx „werden Gruppen mit stark ausgeprägtem Einheitsgefühl Warenökonomie entweder nicht haben oder mißbilligen.“ Wenn etwas einen Marktwert haben soll, muss es trennbar oder ablösbar sein, sodass man es messen, wiegen oder anderweitig vergleichen kann. D.h., als Bewertende müssen wir uns neben das abzuschätzende Ding stellen und uns von ihm distanzieren können. Der Mezzadria-Vertrag führte dagegen meistens zu einem freundschaftlichen Verhältnis nicht nur innerhalb eines Betriebes, sondern innerhalb des Stadtstaates. Deshalb kann man die Produkte eines Mezzadriabetriebes nicht als Waren bezeichnen, sie waren „Gaben“, die sich aus dem Austausch der Begabungen von Cittadini und Contadini ergaben.
Die Wirtschaft und Kultur der mittelalterlichen Stadtstaaten in der Toskana kann man nur verstehen, wenn man unterscheidet,, wie die toskanischen Geschäfte innerhalb des Stadtstaates als Geschenkökonomie zum Vorteil aller Partner funktionierten und wie dieselben toskanischen Kaufleute bis heute noch zum Vorbild für die globale Marktwirtschaft und das Bankensystem geworden sind, welches gerade vor dem Zusammenbruch steht.
6. Und was hat das mit uns zu tun – haben SoLawis als Geschenkökonomien Zukunft?
Die Mezzadria gibt es nicht mehr. Mit dem Ende der kleinen Stadtstaaten, verursacht durch Machtstreben der städtischen Machthaber, die vom Erfolg ihrer eigenen Revolution geblendet, die kleineren schwächeren Nachbarstaaten besiegten, gab es kein überschaubares Innen und damit auch keine Geschenkökonomie mehr.
Die Ideen der Mezzadria hätten gerade heute jedoch großes Potenzial. Wir leben in einer Zeit, in der die globale Wirtschaft, besonders die Landwirtschaft nicht nur weltweit, sondern auch lokal nicht mehr zur Fülle, sondern zum Mangel, nicht mehr zur Gesundheit, sondern zur Krankheit führt. Unsere SoLaWis funktionieren als Geschenkkulturen, sie müssen nur überschaubare Einheiten bleiben, dann können sie die Keimzellen einer neuen Kultur der Begabung werden.