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Warum Solidarische Landwirtschaft notwendig ist

Von Lorenz Glatz
aus: Schulheft 186, 2022 (Gutes Essen für alle – aber wie?)

Die Landwirtschaft auf dem Weg …

Nahrung und ihre Beschaffung stehen unverrückbar im Zentrum des Lebens. Als Beginn spezifisch menschlicher Kultur können wir dabei den Umgang des homo erectus mit dem Feuer vor etwa einer halben Million Jahren datieren. Die Fülle des Essbaren nahm zu durch Braten und Kochen, Feuer diente auch zur Landschaftsgestaltung für reichere Ernährung und als Schutz. Der sich über Jahrtausende hinziehende Übergang des menschlichen Lebens in unserer Weltgegend vom Sammeln und Jagen zu Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht, Staatenbildung und schließlich Industrialisierung beginnt aber erst im Laufe der jüngsten zwei bis drei Prozent unseres Gangs durch die Geschichte.

Im Schulunterricht und weiten Teilen des allgemeinen Bewusstseins wird Geschichte bis heute traditionell als ständiger „Fortschritt“ vorgestellt. Dem Stand der Forschung entspricht das nicht. Im Wimpernschlag der jüngsten Jahrzehnte unserer Zeit stellt sich der „Fortschritt“ eher als Fortgang in die Zerstörung eines Großteils der Lebenswelt des Planeten durch Ressourcenvergeudung dar; als dramatisches Artensterben, Zerstörung des Wildlife, Pandemien, als Verschmutzung und Vergiftung des Wassers, Versalzung und Vermüllung der Meere, Radioaktivität, Schädigung des Bodens und seiner lebendigen Fruchtbarkeit, Ausdehnung der Wüsten und die Erhitzung des Erdklimas mit allen ihren Folgen – und zunehmend wieder als Hunger, Vertreibung und Krieg.

Die Lebensfähigkeit der Säugetiergattung Homo besteht ganz wesentlich in Gemeinschaftlichkeit und Kooperation. Diese Lebensweise kann sich in „Respekt“, d.h. in Rücksichtnahme und Vorsicht gegenüber den Mitmenschen, allen anderen Lebewesen und der gesamten Mitwelt entfalten, in einer Umgangsweise, in der Vertrauen auf gegenseitiges Wollwollen und auf die Lösbarkeit von Konflikten tief verankert ist. Kooperation und Gemeinschaftlichkeit können jedoch auch in ein diverses Paradigma umschlagen. Es besteht im Kampf von Gemeinschaften gegeneinander um Sieg und Kontrolle über die Unterlegenen, ja in der Illusion, wir könnten uns „die Erde untertan machen“ (Bibel, Buch Genesis). Das lateinische Wort „arma“, drückt diese Ambivalenz gut aus: Es kann sowohl „Gerät“ und „Werkzeug“ für die sorgsame Einrichtung unseres Lebens meinen (ein Rest davon steckt noch in dem Wort „Armatur“) als auch „Kriegsgerät“ und „Waffen“ von „Arm-een“ für Unterwerfung und Zerstörung.

… in eine Sackgasse

In den jüngsten Jahrtausenden unserer mehr als fünfhunderttausend Jahre alten Geschichte hat das Paradigma des Kampfs gegen und der Herrschaft über andere Menschen, über alle Lebewesen und die Mitwelt schlechthin beträchtlich an Terrain gewonnen. Die unverzichtbaren, behutsameren Formen des Umgangs mit der Welt – die Plege des Hauses und der dort wohnenden Kinder, Alten und Tiere, des Gartens, des Ackers, des Waldes und der dort wachsenden Nahrung – wurde den Frauen, Müttern und sonstigen Untertanen überlassen. Vor allem aber schwächte, ja entfernte diese Un-Ordnung die wichtigste Sicherung unseres Lebens: die Einsicht in die unvermeidliche Begrenztheit unseres Wissens und Könnens. Der „Fortschritt“, wie diese Entwicklung seit der Aufklärung und vor allem seit der Industrialisierung heißt, scheint daher heute zunehmend damit beschäftigt, den Folgen der von ihm angerichteten tödlichen Schäden doch noch zu entgehen.

Was die bunte Vielfalt der Nahrung unserer Vorfahren in den alten Zeiten des Sammeln und Jagens angeht, ist diese seit der herrschaftlich organisierten Sesshaftigkeit entschieden verarmt. In herrschaftlichen Verhältnissen geht es eben um „mehr“ bzw. um anderes als die Ernährung. Es ging von da an um kontrollierbare Abgaben von Untertanen (heutzutage „Steuern der Bürger“), konzentriert in Siedlungen, die nicht bloß gegen Überfälle der „Barbaren“, sondern lange Zeit auch gegen das Entweichen der Arbeitskraft befestigt werden mussten. Und nicht zuletzt ging es um die Verproviantierung auf Raub- und Kriegszügen. Für das eine wie für das andere brauchte es nicht ökologische Vielfallt, vielmehr gut lager- und transportfähige, nährstoffreiche Früchte von Pflanzen mit gut kontrollierbarer, kurzer Erntezeit. Diese Konstellation war überall, wo sich Herrschaft etablierte, der Beginn der Monokultur von Getreide. Diese dominiert trotz aller negativen Folgen wie der Erschöpfung des Bodens und der Ernteerträge sowie der Verschlimmerung der Auswirkungen schwieriger Klimaperioden zu Hungersnöten bis heute auf fast 60% der globalen Ackerfläche.

Der jüngste Moment herrschaftlicher Landwirtschaft, die Industrialisierung, gibt sich als „Lösung“ dieser Schwierigkeiten aus. Es gelang eine Ertragssteigerung. Dazu brauchte es jedoch Kunstdünger, mit hohem Energieaufwand aus begrenzt vorhandenen fossilen Mineralien produziert. Die Artenvielfalt des Bodenlebens verarmte, Wind- und Wassererosion der Ackererde sind die Folge. Man entwickelte Pestizide im Pflanzenbau und Antibiotika in der Viehwirtschaft samt bedrohlich wachsender Resistenz der Erreger. Hybridsaatgut wird hergestellt, dessen Früchte nicht wieder als Samen verwendet werden können. Pflanzen werden gentechnisch verändert, die Folgen sind nicht absehbar. Und eine nur für Monokultur geeignete Maschinerie rollt über die Felder.

Industrielle Produktion beruht auf allgemeinen Modellen, auf Maschinisierung und Rationalisierung – man abstrahiert von allen kleinräumigen Unterschieden und schlägt aus Kostengründen alles über einen Leisten. Die Rentabilität von Investitionen und der Erfolg in der Marktkonkurrenz stehen an erster Stelle. Ein massives Höfesterben ist die Folge. Handelsketten übernehmen das Geschäft auf Kosten der von ihnen abhängigen Produzenten und bestimmen deren Umgang mit der Natur und unserer Gesundheit nach den Terminen, wann die Produkte im Supermarkt zu liegen haben, und deren Qualität nach der Verkäuflichkeit, der mit allen Mitteln nachgeholfen wird. Industrielle Landwirtschaft wird so zu einem gewichtigen Beitrag zu den oben aufgezählten Gefahren und Katastrophen und fügt zum Hunger noch massenhafte Fehlernährung im Dienst der Konsum- und Profitsteigerung hinzu.

Auf der Suche nach einem Ausweg

Alle diese vorherrschend gewordenen Züge herrschaftlicher Landwirtschaft sind aber wie schon ihre historischen Vorgänger von allem Anfang an auf Widerstand gestoßen. Beschränken wir uns auf das, was heute ansteht! Gegen die industrielle Landwirtschaft haben sich in den Ursprungsländern des Kapitalismus seit dem letzten Jahrhundert diverse Arten „ökologischer“ Landwirtschaft formiert, die sich gegen den Gebrauch von Kunstdünger und Pestiziden und für den Schutz und die Förderung des Bodenlebens aufstellten. Wo diese jedoch auf „Vermarktung“ angewiesen bleiben und schließlich zu Marken von Handelsketten geworden sind, erliegen sie den Gesetzen der Kapitalverwertung auf den Märkten. Gesundes Essen bleibt eine Frage des guten Einkommens, für die große Masse der Menschen im globalen Reich der Agrarindustrie bleibt zunehmend die malbouffe, das Junk-Food, dessen Erzeugung und Export von den mächtigen Staaten(bünden) noch dazu massiv subventioniert werden.

„Solidarische“, „gemeinsame“, „gemeinschaftsgetragene“ Landwirtschaft (englisch CSA, community supported agriculture) ist ein Bemühen ökologischer Landwirtschaft, jenem Druck standzuhalten. Es begann in den 1960er Jahren in Japan mit der Unzufriedenheit mit den gehandelten Lebensmitteln und führte zum Zusammenschluss von Haushalten mit lokalen Kleinbauern zu Teikeis (Partnerschaften), um eine auf persönlichem Kontakt beruhende Versorgung mit guten Lebensmitteln zu bekommen. In Japan beteiligen sich (nach unsicheren Angaben) bis zu einem Viertel der Haushalte an Teikeis. Die so Versorgten finanzieren den Betrieb des Hofs, helfen in verschiedener Weise mit und erhalten dafür die Ernte. Das ist es, was im Kern bis heute unter CSA / Solawi verstanden wird.

Weit verbreitet und inzwischen zu einem vielfältigen Netzwerk organisiert sind Solawis auch in Süd-Korea. Hansalim („Alles Lebendige bewahren“) wurde nach Lebensmittelskandalen 1980 gegründet und versorgt mit kooperierenden klein(st)en Landwirtschaften (meist zwei bis vier Hektar) und lokalen Verarbeitern eine weiter wachsende Zahl von derzeit 2,5 Mio. Mitgliedern (fünf Prozent der Bewohner des Landes) mit hochwertigen und ausschließlich regional erzeugten Lebensmitteln in einem Land mit einer Importquote von 80 Prozent bei Nahrung.

Seit den 80er Jahren wurden auch in den USA und Kanada an die 15.000 CSA gegründet. In Europa setzte eine relativ rasche Verbreitung seit der Jahrtausendwende ein, am stärksten in Frankreich mit inzwischen mehr als 2000 Amap (Associations pour le maintien d’une agriculture paysanne). Derzeit beteiligt sich gegen eine Million Menschen in Europa an CSA/Solawi/Amap. In China gehören CSA, z.T nach amerikanischem Vorbild, als Unterstützung der Kleinbauern zur kapitalismuskritischen Theorie und Praxis einer sich in vielfältiger und auch widersprüchlicher Weise formierenden, oft akademischen „Neuen Linken“. Das 8th International Symposium of CSA 2021 fand in persona in Manaus in Brasilien (10. Jahrestag von CSA in Brasilien) statt und weltweit online mit Sprecher*innen aus allen bewohnten Kontinenten.

Solawi in Aktion

Was Österreich betrifft, ist zwar der Anteil zertifiziert biologischer landwirtschaftlicher Betriebe mit fast einem Viertel EU-weit am höchsten, aber dem Diktat der Handelsketten und dem Druck der industriellen Landwirtschaft und ihrer Lobby können sie nur schwer entgehen. Der Rückgang der Zahl der bäuerlichen Betriebe und der Verlust an landwirtschaftlicher Fläche ist ungebrochen. Seit den 1950er Jahren haben hierzulande fast zwei Drittel der landwirtschaftlichen Betriebe die Bewirtschaftung eingestellt. Nicht nur die EU, sondern auch die österreichische Regierung subventionieren, ja befeuern diesen Prozess, auch wenn immer wieder einmal die Rede von der Unterstützung ökologischer und solidarischer Wirtschaftsweise ist. Von den hunderten Milliarden Euro der „Gemeinsamen Agrarpolitik“ gehen die Subventionen dank der Bemessung nach der bewirtschafteten Fläche zu 85 Prozent an 20 Prozent der Betriebe. Sie machen bei kleinen Wirtschaften fünf bis zehn Prozent des Jahreseinkommens aus, bei größeren mit Maschinenpark und jeder Menge Chemie bis zur Hälfte! (Kurier 14.09.2021). Zugleich wird im Land täglich Boden im Ausmaß von dreißig Fußballfeldern (20 ha) für Wohnhäuser, Betriebsansiedlungen, Verkehrsanlagen und dgl. versiegelt. Eine Entwicklung, die – über 200 weitere Jahre fortgesetzt – keine Agrarflächen im Land mehr übriglassen würde (APA 29.03.2017).

Andererseits entwickeln sich auch hierzulande seit 2011 zunehmend Solawis, knapp sechzig sind an der Arbeit und etliche im Aufbau. Unsere Landwirt*innen knüpfen an vorindustrielles Wissen an und versorgen sich und einige Tausend Mitglieder mit Produkten. Trotz einer noch sehr geringen Zahl und Größe sind wir – vielleicht wegen ausreichend Lernwilligkeit – nicht vom Niedergang der kommerziellen Kleinlandwirtschaft erfasst. Landwirtschaftskammern und Bio-Verbände erkennen in unserem Tun eine „Direktvermarktung“ landwirtschaftlicher Produkte durch Betriebe, deren Kunden sich auf bestimmte Zeit (meist eine Saison) verpflichten, eine bestimmte Menge Erzeugnisse abzunehmen und monatlich oder jährlich den Preis im Voraus zu bezahlen. Das ist jedoch eine durchaus unzureichende Erklärung, weil kleinteilige, den Tieren, Pflanzen und dem Klima angepasste, auf gegenseitige Versorgung ausgerichtete Solawis nicht über Kauf und Preis stabil funktionieren können. Es braucht dazu gemeinsame Vorstellungen über einen solidarischen Umgang miteinander und mit der Natur sowie die Bereitschaft der Mitglieder, das Miteinander in diesem Sinn zu entwickeln, sich von solchen Gedanken anstecken zu lassen.

„Transformation durch Kooperation“ hat Nyéléni, die Bewegung für Ernährungssouveränität, im Sommer 2021 ihre Konferenz zum dritten Mal betitelt. Als Ziel ist „Gutes Essen für Alle“ formuliert. Und: „Essen als Gemeingut, nicht als Ware“ ist ein Leitprinzip der 2016 beschlossenen Deklaration der Europäischen CSA-Bewegung. Das Ziel „für Alle“ soll auf dem Weg zum „Gemeingut“ mit der Methode der „Kooperation“ erreicht werden. Mit Vermarktung ist da nicht viel zu machen.

Eine Solawi kann von einem Hof ausgehen, auf dem Landwirtschaft als guter und freundlicher Umgang mit dem Leben der Mitwelt verstanden und Mitmenschen kundig versorgt werden sollen. Es gibt auch Gruppen von Menschen mit diesem Ziel, die solche Landwirte und einen Hof suchen und sich mit ihnen zur gegenseitigen Versorgung zusammentun. Menschen finden sich auch zusammen für eine gemeinsame Versorgung als Lehr- und Lernprozess in Gemeinschaftsgärten. Und es gibt jede Menge Mischformen und Weiterentwicklungen.

Ohne Preis und Markt

Wie auch immer die Solawi organisiert ist – die Bindung an eine Landwirtschaft macht zumindest ein Stück weit aus Kunden Menschen, die Verantwortung übernehmen und Einfluss auf die Gestaltung nehmen. Es geht nicht um und endet nicht bei Geld gegen Ware, soviel sich wer halt leisten kann. Es taucht in den Initiativen die Frage auf, warum der finanzielle Beitrag denn ein Preis sein muss, wenn bei den Mitgliedern die finanziellen Möglichkeiten recht verschieden sind. Ein selbstbestimmter angepasster Beitrag ist ein praktizierter Weg, damit umzugehen, Mitarbeit auf dem Feld für einen Ernteanteil ein anderer. Auch so kann ein Budget gedeckt werden.

Auch der zweite Teil des Marktgeschehens neben dem Preis kann aufgeweicht werden: die Menge. Wo in Solawis bei der Verteilung „Freie Entnahme“ herrscht, nimmt sich jedes Mitglied (für wie viele Personen, wird bei der Anmeldung bekanntgegeben) je nach Gusto und mit Rücksicht auf die anderen, was sein Haushalt bis zum nächsten Mal braucht. Der „Standdienst“ – nicht selten Freiwillige mit Kommunikationslust – gibt Hinweise und Erklärungen.

Freiwillige, unberechnete Mithilfe beim Propagieren der Idee, bei der Verteilung der Ernte, bei Organisation und Verwaltung hat sich aus Freude an sinnvoller Tätigkeit und an Anerkennung und/oder aus Verantwortungsgefühl für die Solawi-Gemeinschaft weit verbreitet. Auch Aktionstage der nicht am Hof tätigen Mitglieder zur Mithilfe auf dem Feld finden Zuspruch, weil man hier andere Mitglieder und vor allem in der Landwirtschaft Tätige – ob Hofbesitzer, seine Angestellten oder die Angestellten des gemeinsamen Vereins und Betreibers der Solawi – beim gemeinschaftlichen Werken und Essen trifft und kennenlernt. So nähert sich auch ein Solawi-Betrieb an einen Gemeinschaftsgarten an.

Gegen die Marktusancen haben sich die Solawis auch bei den in der Landwirtschaft Tätigen zu stellen, auch wenn das oft nicht gern ausgeleuchtet wird. Die Einkommen in der Landwirtschaft sind miserabel und werden in der Praxis oft noch weiter unterboten. Der engere Kontakt, der bei Mitgliedern von Solawis besteht, macht aber die mageren Löhne eher sichtbar und bringt sie zu Recht zur Sprache und zur Besserung.

Auch die Solawis arbeiten zunehmend zusammen, bei der Verteilung, bei Absprachen in der Anbauplanung und dem Austausch von Produkten. Auch Kooperation mit kleinen Produzenten, Bio-Bauern, Besitzern ungenützter Streuobstwiesen und dgl. kommt auf. Vor allem aber kommen nach einer Phase von zuviel Selbstbezogenheit Treffen und Austausch von Erfahrungen und Hilfestellung für Neugründungen in Gang. Eine gemeinsame Website solawi.life soll diesen Schwung erhalten helfen. Auch der Kontakt mit den deutschen Nachbarn und der Anschluss an die internationale Organisation Urgenci haben sich erfreulich verstärkt.

Ein Prozess des Lernens und der Weigerung

Die Erfahrungen, die Menschen machen können, wenn sie sich einer CSA/Amap/Solawi, und wie solche Initiativen sonst noch heißen mögen, anschließen, sind in den Ländern des globalen Nordens Ausgrabungen von Praktiken und Umgangsformen, die hier spätestens durch die von Geld und Kapitalverwertung dominierte Entwicklung der Landwirtschaft verschüttet wurden. In unseren Ländern leben 15 Prozent der Weltbevölkerung, hier wird aber über 85 Prozent der verwendeten Ressourcen der Menschheit verfügt. So extrem ungleich diese dabei auch hierzulande verteilt sind, begründen sie doch eine konsumistischen und zugleich von Konkurrenz geprägte „imperiale Lebensweise“ (Brand / Wissen), in die der Alltag fast aller Menschen verflochten ist und die auch weltweit für fast „alle, die es sich leisten können“ attraktiv sein kann.

Was die Landwirtschaft und unsere Ernährungsweise betrifft, so werden uns durch Welthandel und Weltmarkt das ganze Jahr über eine Fülle von Produkten von Obst, Gemüse und Getreide über Gewürzen und Genussmittel bis zu Bio-Sprit aus den Plantagen des Südens zu Billigpreisen aufgedrängt. Den Bewohnern der EU stehen auf diese Weise zusätzlich zu den Agrarflächen in der Union weitere 300.000 km² je nach Kaufkraft zur Verfügung, davon 200.000 allein in Südamerika, für Soja vor allem, als Tierfutter für den überbordenden Fleischkonsum. Für die dortigen Eliten ist das „Fortschritt“ und „Entwicklung“, für Kleinbäuer*innen jener Länder bedeutet es den Verlust ihrer Felder an den Großgrundbesitz durch Verdrängung oder gewaltsame Vertreibung. Generell hat das „Landgrabbing“ von fruchtbarem Boden durch transnationales Kapital als „sichere Anlage“ im globalen Süden seit der Krise von 2008 sprunghaft zugenommen.

Der Ressourcenverbrauch der meisten Mitglieder Solidarischer Landwirtschaften in den Metropolen des Weltkapitals liegt weit über dem Level, der auf alle Menschen verallgemeinerbar wäre. Auch von den sich abzeichnenden negativen ökologischen und sozialen Folgen der herrschenden Wirtschaftsweise sind sie auf absehbare Zeit noch beträchtlich weniger betroffen als der Großteil der Menschheit. Sie sind daher auch für illusionäre Besserungsvorschläge, die die Grundlagen der herrschenden Lebens- und Wirtschaftsweise nicht antasten wollen, leichter empfänglich als Menschen, die die Folgen bis hin zur Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen vor Augen haben. Umso wichtiger ist daher unsere lebendige Einbindung in die Praxis unserer Gemeinschaften und das (gemeinsame?) Nachdenken darüber, wie wir uns dem herrschenden konsumistischen Lebensideal verweigern und ein gutes Leben für alle möglich machen können.

Solawis haben damit für ihren unmittelbaren Bereich Landwirtschaft eine konkrete oppositionelle soziale Zielsetzung. Sie streben mit „Gutes Essen für Alle“ und „Essen als Gemeingut, nicht als Ware“ danach, dass alle Menschen von dem Boden ihre Lebensmittel gewinnen können, auf dem sie zusammenleben, und dass es illegitim ist, anderen durch herrschaftliche Ansprüche wie Eigentum und Geld dieses Gemeingut zu verweigern. Der Weltmarkt, der gerade auch in diesem elementaren Bereich auf solchen Ansprüchen beruht, ist ein unsere „tägliche Lebensweise organisierendes Verhältnis“ (Brand/Wissen), das überwunden werden soll.

60 Prozent der Lebensmittel der Menschheit wird trotz aller herrschaftlicher Bemühung in kleinteiliger, mehr oder weniger kooperativer Subsistenzlandwirtschaft produziert (Dominik Ziller Deutschlandfunk 26.7.2021). Sie hat im globalen Süden eine heftig bekämpfte, aber unzerstörte Tradition und hat ökologisch wertvolles Wissen bewahrt. Sie ist, wenn eins den Ressourcenverbrauch und die ökologischen Belastungen in Rechnung stellt, sicherlich produktiver und nachhaltiger als die Agrarindustrie. Bauern und vor allem Bäuerinnen in Kenia und in Mexiko, Menschen verschiedener Sprache und Kultur in Rojava im Norden Syriens sind nur einige exponiertere und bekanntere Beispiele für ideenreiche, zähe Selbstbestimmung unter schwierigsten Bedingungen gegen den Druck und die offene Gewalt von Agrarkapital, Großgrundbesitz, nationalem und religiösem Fanatismus und dem damit verbundenen Staat.

2021 haben Zapatisten aus Chiapas in Mexico Europa besucht und Kontakt und Freundschaft mit ähnlich Gesinnten gesucht. Sie haben auch zwei unserer Solawis besucht. Ihre nüchterne Distanz zu Hoffnungen auf Staat und Wirtschaft waren ansteckend und erst recht ihre Zuversicht: „Unsere Waffen sind Gemeinschaft und Solidarität. Durch gegenseitige Hilfe sind wir stärker und können ein gutes Leben führen: wir haben immer genug, wenn wir einander helfen. Das schweißt zusammen. Es macht uns stark.“

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Literaturhinweise

solawi.life/wp-content/uploads/2018/12/European-CSA-Declaration_dt.pdf (Erklärung der europäischen CSA-Bewegung)
solawi.life (Solawi in Österreich)
solidarische-landwirtschaft.org (Solawi in Deutschland)
www.one-world-award.de/hansalim-korea.html (Hansalim in Korea)
de.wikipedia.org/wiki/Solidarische_Landwirtschaft
urgenci.net (international network of Solidarity-based Partnerships for Agroecology)
terredeliens.org (agriculture biologique, finance éthique, économie solidaire et développement rural)
oekosystem-erde.de (von Jürgen Paeger)

Florian Hurtig: Paradise lost. Vom Ende der Vielfalt und dem Siegeszug der Monokultur. Oekom 2020
Tomasz Konicz: Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört. Mandelbaum 2020
James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation. Suhrkamp 2020
Boaventura de Sousa Sanos: Epistemologien des Südens. Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens. Unrast 2018
Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Oekom 2017
David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die Mehr-als-menschliche-Welt. Thinkoya 2012
Raúl Zibechi: Territorien des Widerstands. Assoziation A 2011
Marshall Sahlins: Stone Age Economics. Routledge 1972 / 2005 (Der Teil „The Original Affluent Society“ liegt im Netz auch auf Deutsch vor: wildnisschule-waldkauz.de/Artikel/Die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft.pdf)